Prof. Dr. Chantal Munsch – Portrait
Wenn Freiwillige ihr Engagement abbrechen, bleibt das meist unter dem öffentlichen Radar: Zahlen zu Engagement-Abbrüchen werden in Deutschland nicht regelmäßig erhoben. Auch wissenschaftlich wurde das Thema bisher kaum aufgearbeitet. Die Sozialpädagogin und Erziehungswissenschaftlerin Prof.’in Dr. Chantal Munsch hat sich zusammen mit Dr. Andreas Kewes und Moritz Müller intensiv mit der Frage beschäftigt, warum Menschen ihr Engagement beenden
Sie löschen Feuer, bringen Kindern das Schwimmen bei, sitzen in Stadt- und Gemeinderäten, verteilen Essen an Bedürftige oder schlichten Streit zwischen Nachbarn. Ohne freiwillig Engagierte würde unsere Gesellschaft nicht funktionieren. Zum Glück gibt es in Deutschland jede Menge Menschen, die sich in ihrer Freizeit für eine gute Sache einsetzen: Laut dem aktuellen Deutschen Freiwilligensurvey aus dem Jahr 2019 engagieren sich knapp 40 Prozent der Bürgerinnen und Bürger über 14 Jahren freiwillig.
Anzeigen, Broschüren und Zeitschriften werben typischerweise mit zwei Versprechen um Engagierte: Freiwilliges Engagement ist demnach eine Möglichkeit, andere kennenzulernen und gemeinsam mit ihnen aktiv etwas zu gestalten. Die dazugehörigen Bilder zeigen extrem glückliche, wirkmächtige Menschen: Von der sympathischen und rüstigen Seniorin, die einem Kind etwas vorliest, bis hin zur fröhlichen Aktionsgruppe, die bei strahlendem Sonnenschein an ihrem Stand in der Fußgängerzone Flyer verteilt. Die Botschaft ist klar – im Engagement begegnen sich Menschen offen und zugewandt. Hier lässt sich eine Gemeinschaft erleben, von der alle profitieren.
Die Siegener Sozialpädagogin und Erziehungswissenschaftlerin Prof.’in Dr. Chantal Munsch sieht solche Darstellungen von Engagement kritisch. Seit über 20 Jahren forscht sie zum Thema bürgerschaftliches Engagement – und ist in dieser Zeit auch auf viele andere Erzählungen gestoßen: Sie handeln neben großem Enthusiasmus für das eigene Engagement auch von Verletzungen und tiefer Enttäuschung. »Das öffentliche Ideal-Bild wird den ambivalenten Erfahrungen, die Freiwillige im Rahmen ihres Engagements machen, nicht gerecht«, ist Munsch überzeugt. »Die Forschung hat hier die Möglichkeit, genauer hinzuschauen.«
Auf einen Blick
- Das Projekt »Spannungsverhältnisse in Engagement- feldern. Ein Vergleich zwischen Kirchengemeinden, Sportvereinen, Umweltinitiativen und Wohlfahrtsverbänden« ist im Oktober 2019 gestartet und geht Ende Juni 2024 zu Ende. Es wird von der DFG mit 521.765 Euro gefördert.
- In einem früheren Forschungsprojekt (1.6.2014 – 31.8.2017) haben die Wissenschaftler*innen Abbruchprozesse von bürgerschaftlichem Engagement speziell in der Wohlfahrt untersucht. Dieses Projekt wurde mit 273.997 Euro von der DFG gefördert.
- Prof.’in. Dr. Chantal Munsch wurde im April 2023 mit der Leitung der aktuellen Engagement-Kommission der Deutschen Bundesregierung beauftragt. Die Kommission legt alle vier Jahre einen Engagement-Bericht vor. Dr. Andreas Kewes leitet die Geschäftsstelle der Kommission, die die Erstellung des Berichts begleitet
- Ihre Forschungsergebnisse werden die Wissenschaftler*innen in dem Buch »Engagement im Zwiespalt« veröffentlichen, das bei Beltz Juventa erscheinen soll
Zusammen mit dem Politologen Dr. Andreas Kewes und dem Sozialpädagogen Moritz Müller hat sich Munsch intensiv mit den Schwierigkeiten auseinandergesetzt, denen Freiwillige in ihrem Engagement begegnen. »Wenn Sie die Ehe verstehen wollen, müssen Sie sich anschauen, warum es zu Scheidungen kommt«, findet Munsch. In zwei aufeinander aufbauenden Studien haben sie und ihr Team sich daher konkret mit Engagement-Abbrüchen befasst – also der Frage, warum Engagierte ihre Tätigkeit beenden. Der Fokus lag dabei auf der Sichtweise der Ehemaligen. Um diese kennenzulernen, führten die Wissenschaftler*innen narrative Interviews mit mehr als 60 Menschen, die ein Engagement abgebrochen haben. Dabei nahmen sie vier unterschiedliche Engagementfelder in den Blick: Wohl- fahrtsverbände, Kirchengemeinden, Umweltinitiativen und Sportvereine.
»In den Gesprächen haben wir den Ehemaligen viel Raum gegeben, ihre Geschichten vom Anfang bis zum Ende zu erzählen«, erklärt Kewes. In zeitaufwendiger Fleißarbeit haben die Wissenschaftler*innen die bis zu dreistündigen Interviews ausgewertet und vergleichend analysiert. »Das war extrem spannend. Denn zunächst waren die Geschichten natürlich sehr individuell. Der systematische Vergleich hat dann aber bestimmte Muster zutage gebracht. Manche Herausforderungen, denen Engagierte bei ihren Tätigkeiten begegnen, zeigten sich in den Abbrucherzählungen immer wieder. Teilweise wurden sie von unterschiedlichen Personen sogar nahezu wortgleich beschrieben«, sagt Munsch.
Ein Ergebnis der Auswertung: Engagement-Abbrüche gibt es quer durch die Gruppe der Engagierten. »Von der jungen Messdienerin über den Familienvater, der sich im Sportverein seiner Söhne engagiert, bis hin zum Rentner, der in Gremien der katholischen Kirche mitarbeitet: Häufig sind die Abbruchgeschichten ähnlich strukturiert«, sagt Moritz Müller. Die Gründe, warum Freiwillige ihr Engagement beenden, liegen vor allem in kollektiven Erfahrungen, die sie im Rahmen ihrer Tätigkeit machen, haben die Wissenschaftler*innen herausgefunden. Zwei unterschiedliche Erfahrungsdimensionen haben sie dabei herausgearbeitet: Zum einen spezifische Herausforderungen, die in den unterschiedlichen Engagementfeldern – Wohlfahrtsverbände, Kirchengemeinden, Umweltinitiativen und Sportvereinen – bestehen. Zum anderen Herausforderungen, die das Engagiert-Sein per se mit sich bringt, unabhängig davon, wo sich jemand engagiert. Einer emotional sehr belastenden, feldspezifischen Herausforderung begegnen Ehrenamtliche beispielsweise in der Wohlfahrt: Wenn sie sich um Pflegebedürftige kümmern, ist das einerseits erfüllend. Andererseits ist die Wohlfahrt in Deutschland durch Ökonomisierung geprägt – der Mangel an Zeit und Geld sowie das routinierte Agieren der Organisationen stehen im Widerspruch zu dem, wie sich viele Engagierte die Betreuung Hilfsbedürftiger eigentlich vorstellen. »Das kann sehr frustrierend sein und führt auch dazu, dass Engagierte das Handtuch werfen«, sagt Müller.
Im Bereich der Kirche liegt die spezifische Heraus- forderung der Studie zufolge im unterschiedlichen Verständnis der Engagierten, wofür Kirche stehen soll. »Die einen sagen: ‚Hier gibt’s durchaus ’ne Brat- wurst, aber bitte keine Bibelsprüche.‘ Die anderen fordern gerade Bibelarbeit, Gebete und eine christ- liche Positionierung zu weltpolitischen Themen. Eine weitere Gruppe legt den Fokus darauf, die Gemeinde- arbeit sinnvoll und effizient zu organisieren«, erklärt Munsch. Wenn diese unterschiedlichen Perspektiven – Kirche als Gemeinschaft, als Bewegung oder als Orga- nisation – aufeinanderprallen, sorge das für massive Spannungen: »Das ist für manche Engagierte schwer auszuhalten.« Wesentliche Herausforderungen im Bereich der umweltpolitischen Initiativen sind den Wissen- schaftler*innen zufolge die hohen Anforderungen an Zeit und Expertise der Engagierten. »Wer gegen professionelle Strukturen in Politik und Verwal- tung etwas durchsetzen will, muss sich extrem viel Wissen aneignen. Das kostet Zeit und Energie, die viele nicht aufbringen können«, erklärt Kewes.
Vergleichsweise spannungsarm ist laut der Studie dagegen der Sportbereich – wobei es auch in den Ver- einen immer wieder zu typischen Konflikten kommt. Ein Grund dafür sei die alltägliche Vereinsarbeit, die den Mitgliedern viel abverlangt, sagt Kewes: »Die Förderung des Sports bedeutet am Ende immer auch viele organisatorische und bürokratische Aufgaben.« Neben feldspezifischen Spannungen haben Munsch, Kewes und Müller in den Abbrucherzählungen auch feldübergreifende Herausforderungen identifiziert. »Egal, ob Kirche, Umweltinitiative oder Sport – immer wieder haben uns Abbrecher*innen von Schwierigkei- ten in der Zusammenarbeit mit anderen Engagierten berichtet. Dieser Aspekt zieht sich tatsächlich durch sämtliche Erzählungen«, sagt Munsch. Aus ihrer Sicht ist das wenig überraschend, sondern liegt viel- mehr in der Natur der Zivilgesellschaft: »Da ist die Zusammenarbeit bei Weitem nicht so geregelt, wie in der Erwerbsarbeit, wo es klarere Hierarchien und Aufgabenbereiche gibt. Im Engagement müssen die Freiwilligen das alles selbst aushandeln.« Die Koope- rationsanforderungen seien daher besonders hoch. Schwierig werde es insbesondere, wenn unterschied- liche Kooperationsstile aufeinanderprallen.
Zwei typische Darstellungsweisen von Zusammenarbeit haben die Wissenschaftler*innen in den Erzählungen der ehemaligen Engagierten gefunden: Einerseits die Vorstel- lung vom gemeinsamen »Puzzeln« am großen Ganzen – die Engagierten begreifen sich demnach als »Puzzleteile«, die im Sinne der Schwarmintelligenz gemeinschaftlich und auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Andererseits die Vorstel- lung, dass einige Engagierte mit besonderen Kompetenzen die Verantwortung übernehmen und in der Kooperation vorangehen, indem sie das gemeinsame Handeln bestim- men. »Für diesen Kooperationsstil haben wir die Metapher der ‚Spielsteine‘ gewählt: Die Engagierten begreifen sich als autonom Handelnde, die strategisch eigene Ziele ent- wickeln«, erklärt Kewes. Dass Menschen, die sich als Puzzleteile verstehen, nicht gut mit »Spielsteinen« kooperieren können und umgekehrt, liegt für Munsch auf der Hand: »Da kommt es schnell zu Konflikten. Und gerade weil die meisten Menschen ihr frei- williges Engagement mit viel Herzblut betreiben, sind die daraus resultierenden Verletzungen umso tiefer.« Munsch ist überzeugt, dass ein realistischeres Bild von bürger- schaftlichem Engagement mitsamt seinen Ambivalenzen der Engagementförderung und den Engagierten eine neue Perspektive ermöglicht: »Wer sich die bestehenden Her- ausforderungen bewusst macht, wird auch eher in der Lage sein, sie kooperativ zu bewältigen beziehungsweise auch mal mit Enttäuschungen umzugehen.«