Prof. Dr. Carolin Gerlitz
Was machen Menschen mit Medien und was machen Medien mit Menschen? Der Sonderforschungsbereich ≫Medien der Kooperation≪ an der Universität Siegen beschäftigt sich seit 2016 mit Phänomenen der digitalen Gesellschaft. Die Entwicklung ist rasant. Die Forschenden blicken verstärkt auf Sensormedien und Künstliche Intelligenz und stellen dabei fest: Technisches und menschliches Sensorium verschränken sich zunehmend.
Wer in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, war dabei, als Menschen 1954 gespannt vor dem Radio-Apparat hockten, um das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft zu verfolgen. Sie erlebten den Einzug des Fernsehers in die Wohnzimmer. Von der schwarz-weißen Drei-Programme-Auswahl bis hin zur bunten Zapping-Vielfalt. Sie arbeiteten noch mit der Schreibmaschine und später mit dem Computer, spielten mit den Kindern die ersten Videospiele, drehten zum Telefonieren aber noch an einer Wählscheibe und legten Filme in eine Fotokamera. Und heute? Ihre Smartphones zeigen an, wenn der Blutdruck zu hoch ist oder sie sich zu wenig bewegt haben. Mit ihren Enkelkindern kommunizieren sie per WhatsApp. Sie lesen Nachrichten online und sind erleichtert, wenn das Auto automatisch beim Einparken hilft. Ein Menschenleben im medialen Turbo. Und der Takt bleibt hoch und verändert neben dem, was technologisch kurz unter »Digitalisierung « gepackt wird, alle Bereiche des Lebens und Zusammenlebens.
Der Sonderforschungsbereich (SFB) »Medien der Kooperation « an der Universität Siegen zielt mitten hinein in diese rasante Entwicklung und fragt: Was machen Menschen mit Medien und was machen Medien mit Menschen? »Wir beschäftigen uns nicht mehr mit Einzelmedien, sondern mit der zunehmenden Verbreitung von Medien, die als solche zum Teil gar nicht mehr erkennbar sind«, erklärt Prof. Dr. Carolin Gerlitz. Die Medienwissenschaftlerin ist seit 2022 Sprecherin des Sonderforschungsbereichs, der 2016 an der Universität Siegen an den Start ging. Die Uni hat eine fast 40-jährige Tradition in den Medienwissenschaften. In früheren SFBs beschäftigten sich die Forschenden mit »Bildschirmmedien« und danach mit »Medienumbrüchen«.
»In unserer digitalisierten Welt können wir aber nicht mehr nur den Blick auf Fernsehen, Film oder PC lenken. Medien der Kooperation entstehen durch Interaktion und ermöglichen Interaktion. Das ist ein Zusammenspiel. Daher schauen wir sowohl auf die Entstehung der Medien als auch auf das, was sie ermöglichen«, sagt Carolin Gerlitz.
In der ersten Förderphase haben sich die Projekte des SFBs auf Infrastrukturen, die Medien zugrunde liegen, konzentriert und kritisch die Partizipationsversprechen von Social-Media-Plattformen untersucht. In der zweiten Förderphase wurde verstärkt die Rolle von Daten und Datenpraktiken als Teil medialer Kooperation mit in den Blick genommen. In der dritten Förderphase geht es nun vor allem um Kooperation im Kontext von Künstlicher Intelligenz und sensorischen Medien. »Sensorische Medien haben die Fähigkeit, konstant ihre Umgebung zu erfassen«, erklärt Carolin Gerlitz. Sensoren registrieren Lichtverhältnisse, nehmen Geräusche oder Bewegungen auf, messen Geschwindigkeiten, Temperaturen oder Vitaldaten. Zu dieser smarten Technik gehören Sprachassistenten wie Alexa oder Echo Dot, mit denen Menschen aktiv interagieren, aber auch Medien, die man gar nicht mehr wahrnimmt. Dies wird als Internet of Things bezeichnet, also die digitalen Infrastrukturen, die im Hintergrund Daten erfassen, ohne dass Menschen das bemerken.
All diese sensorischen Medien zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich mit Umgebungen verbinden. »Medien sind damit nicht mehr nur Erweiterungen, sondern das technische und das menschliche Sensorium werden verschränkt«, betont Carolin Gerlitz. Deshalb betrachten die Wissenschaftler*innen in den SFB-Projekten Medien immer in ganz konkreten Nutzungssituationen. Kaum ein Lebensbereich, der nicht betroffen ist: Gesundheit, Pfl ege, Fitness, die »smarte« Wohnung, das »intelligente « Auto oder E-Bike und die immer gleiche Frage: Wie viel Smartphone darf denn sein – vor allem bei Kindern? Projekte des SFBs beschäftigen sich aber auch mit dem Einsatz von Sensoren und Medienpraktiken in der Landwirtschaft und in militärischen Konflikten.
»Medien sind eingebettet in der Welt. Wir können sie nur in Praktiken betrachten und nicht losgelöst davon«, fasst Carolin Gerlitz zusammen. Mit den sensorischen Medien rückt auch Künstliche Intelligenz (KI) verstärkt ins Zentrum des Siegener Sonderforschungsbereichs: »Denn bei Medien, die die Umgebung konstant erfassen, die verschaltet sind, ist es KI, die die Sensordaten auswertet, die Muster darin erkennt und Entscheidungshilfen anbietet.«
Wir nehmen also die Welt sowohl durch unsere eigenen Sinne als auch über die Daten, die Medien produzieren, wahr. Sensemaking nennen das die Wissenschaftlerinnen. »Uns interessiert, wie sich technisches Sensemaking durch KI mit dem menschlichen Sensemaking verschränkt und wie die Wahrnehmung der Welt gemeinsam mit Medien bewerkstelligt wird«, erläutert die Professorin. Die Beobachtung der menschlichen Interaktion mit den Technologien bezeichnen die Forschenden als sensorische Praxeologie. Doch wer gibt im Zusammenspiel von Mensch und Maschine die Richtung vor? »Wenn man von Kooperation spricht, wird oft vermutet: Alle Akteurinnen handeln symmetrisch und können die Situation gleichermaßen gestalten.
Wir hingegen sagen: Die Beziehung zwischen Akteurinnen kann ganz unterschiedlich sein. Menschliche Akteurinnen bestimmen die Situation stark, aber es gibt auch Situationen, wo ganz viel durch KI erfasst, ausgelagert und entschieden wird«, so die SFB-Sprecherin. Das Interesse der Wissenschaftler*innen des Siegener SFBs ist es, je nach Forschungsfeld zu fragen: Wer bestimmt die Situation wie mit? Wer hat welche Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten? Wo wird das eingeschränkt und wo wird es problematisch? Carolin Gerlitz und die Forschenden im SFB beobachten und begleiten die öffentliche Diskussion zur Macht der Medien aufmerksam: »Wir nehmen Befürchtungen wahr. Aber um zu verstehen, wo und an welcher Stelle vielleicht zu viel Macht an Technologie abgegeben wird, müssen wir die Vorgänge verstehen. Wir gehen auf gesellschaftliche Ängste ein, aber indem wir ausdifferenzieren, wie das Zusammenspiel von Menschen und Medien sich vollzieht.« Der SFB ist in seinen Projekten ganz nah dran am Alltag der Menschen. Auch hier spielt der Anspruch, »praxeologisch« zu arbeiten, eine entscheidende Rolle. »Unsere Forschung basiert auf Zusammenarbeit mit denjenigen, die beforscht werden«, macht Carolin Gerlitz deutlich.
Ob es um die Nutzung von Smartphones in Familien geht, um digitale Plattformen für ältere Menschen oder um Sensoren und Apps für Radfahrer*innen. »Wir kommunizieren nicht nur fertige Ergebnisse an die Öffentlichkeit, sondern forschen mit verschiedenen Öffentlichkeiten.«
Das sind sowohl Gruppen, die besonderes Interesse an einer bestimmten Fragestellung haben und dann Teil der Datenerhebungen sind, als auch kritische Öffentlichkeiten. Zu kritischen Öffentlichkeiten gehören aktivistische Gruppen, die zum Beispiel aufzeigen, wo und wie Künstliche Intelligenz zur Benachteiligung beiträgt, weil die Trainingsdaten der KI auf Basis der Mehrheitsgesellschaft entwickelt werden und KI somit Minderheiten diskriminiert.
Am SFB »Medien der Kooperation« sind diverse Disziplinen beteiligt wie die Medienwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Linguistik, Ubiquitous Computing, Science and Technology Studies, aber auch die Informatik, Erziehungs-, Rechts- und Ingenieurwissenschaften. Sie alle tragen zu diesem Gesamtprojekt bei und bringen ihre spezifischen Blickwinkel ein. »Uns eint das Interesse an der digitalen Gegenwartsforschung. Das ist das Fundament dieser Zusammenarbeit«, unterstreicht Carolin Gerlitz. Der SFB »Medien der Kooperation« ist in der dritten Phase der Förderung. Weitere Verlängerungen sieht die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) für Sonderforschungsbereiche nicht vor. »Aber wir wissen natürlich, dass unsere Themen niemals ausgeforscht sind. Im Laufe der nächsten vier Jahren werden sich die nächsten Perspektiven eröffnen«, ist sich Carolin Gerlitz sicher. »An der Universität Siegen gibt es eine ausgewiesene Expertise in der interdisziplinären Medienforschung und ein kollektives Interesse an diesem dynamischen Feld. Da wollen wir dranbleiben.«